Dr. Heidi Vormann, Leiterin der Münsterbauhütte
TOP: Frau Dr. Vormann, wenn Sie einem Fremden das Ulmer Münster in drei Worten beschreiben müssten, welche wären das?
Dr. Vormann: Groß. Beeindruckend. Ehrfurcht. Vor allem, wenn man allein ist, spürt man im Ulmer Münster noch die „Geister“, die hier früher gewirkt haben.
TOP: Sie haben sich nun selber eingereiht in diese Galerie der großen Geister und Münsterbaumeister. Zuvor waren Sie als Diplom-Ingenieurin der Architektur in Bamberg im Bereich Denkmalschutz tätig. Wie kam es zu diesem Wechsel nach Ulm?
Dr. Vormann: Im Zuge meines Studiums in Bamberg habe ich bereits viel über das Ulmer Münster gehört, mein damaliger Professor Dr. Achim Hübel hat regelrecht davon geschwärmt. Bei meiner ersten Besichtigung war ich sofort fasziniert von diesem gewaltigen Bauwerk. Als die Stelle ausgeschrieben wurde, musste ich mich einfach bewerben. Dass es so gut laufen würde, hätte ich anfangs nicht gedacht.
TOP: Seit dem 15. Februar sind Sie nun Leiterin der Münsterbauhütte. Haben Sie sich gut eingelebt in Ihrem Team?
Dr. Vormann: Ja, auch wenn der Start etwas holprig war. Es gab ja keinerlei Übergangsphase. Durch den plötzlichen Tod meines Vorgängers Michael Hilbert konnte ich keine Rückfragen mehr stellen. Alles ging von null auf 100 los. Bauhüttenmeister Andreas Böhm, der die Geschicke übergangsweise geleitet hat, hat mir aber viel erzählt. Daneben erhielt ich ein fantastisches Büro mit zwei Sekretärinnen, die immer wissen, wo sich die richtigen Formulare befinden. Zum Glück hat das Team schnell zusammengefunden und konnte entsprechende Führungsaufgaben übernehmen. Das hat mir gut getan. Je wohler man sich im Team fühlt, desto wohler fühlt man sich auch in der neuen Stadt.
TOP: Sie sind die zweite Frau der insgesamt 21 Münsterbaumeister. Wenn Sie Ihr 25-köpfiges Team betrachten – ist die Bauhütte immer noch eine Männerdomäne?
Dr. Vormann: Neben unserer Steinmetzin Jessika Gläser, die ihre Ausbildung als Kammersiegerin abgeschlossen hat, arbeiten noch zwei weitere Frauen in unserem Team. Uns erreichen immer mehr Anfragen von jungen Frauen, insbesondere für Praktika oder FSJ. Körperliche Kraft ist nicht alles, zumal wir heute mit Winden und Seilzügen besser ausgestattet sind. Interesse sowie Talent sind wichtiger. Erfreulicherweise haben wir keine Nachwuchsprobleme. Wir beschäftigen vier Lehrlinge, hatten aber weitaus mehr Bewerber. Sicherlich liegt dies im Standort begründet. Auch scheint die Lust auf „ehrliche Berufe“ zuzunehmen.
TOP: Apropos Beruf: Welche Aufgaben hat die Münsterbauhütte?
Dr. Vormann: Die Aufgaben sind extrem vielfältig. Ob Schmiede-, Schreiner-, Schlosserarbeiten, ob Einhausungen, Absperrungen, Einbau von Rampen – das meiste machen wir selbst, manche Bereiche wie das Kartieren vergeben wir an Fremdbüros. Unser momentanes Augenmerk liegt auf der Sanierung des Hauptturms. Dazu wird jeder einzelne Stein fotogrammetrisch erfasst, um zu sehen, welcher ausgetauscht werden muss und welcher durch konservierende Maßnahmen repariert werden kann. Jeden Montag machen wir eine Bestandsaufnahme: Sind alle Türen dicht? Gibt es zerbrochene Fenster? Sind noch alle Ziegel da? Wir begehen regelmäßig die obere Besucherplattform. Bei Schäden durch Stürme müssen wir schnell reagieren, um die Sicherheit zu gewährleisten. Mit Fenster- und Sockelsanierungen und dem Einbau der neuen Orgel liegt dieses Jahr noch einiges an. Mein Tag beginnt um 6 Uhr und endet häufig erst gegen 20 Uhr.
TOP: Es heißt, die komplette Sanierung des Münsters dauert etwa 100 Jahre. Der Klimawandel wird Ihre Aufgabe nicht vereinfachen. Mit welchen Problemen müssen Sie sich auseinandersetzen?
Dr. Vormann: Stürme, Starkregen, Gewitter sind markante Umwelteinflüsse, die auf ein so großes Gebäude weitaus mehr einwirken. Durch den Klimawandel haben wir eine andere Ausgangssituation als noch vor 15 Jahren. Wir versuchen soweit wie möglich sicherzustellen, dass nichts nach unten bricht. Es gibt einen Mitarbeiter, der jeden einzelnen Stein abklopft. Ein anderer, der für die Säuberung des Gebäudes zuständig ist, prüft ebenfalls, ob etwas wackelt. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kommt es zu etwa zwei bis fünf kleinen Steinabgängen pro Jahr. Das lässt sich nicht vermeiden. Filigrane Teile wie die Spitztürmchen sind dafür besonders anfällig.
TOP: Anfang 2021 wurde die Ulmer Münsterbauhütte zum UNESCO Weltkulturerbe ernannt. Welche Bedeutung hat dies für Sie?
Dr. Vormann: Es ist ein großer, wahnsinnig wichtiger Schritt. Das über Jahrhunderte angesammelte Wissen, wie welcher Stein bearbeitet werden muss, darf nicht verloren gehen. Man denke an das Schicksal der Fass- und Trogbauern, deren Kenntnisse auszusterben drohen. Ein weiterer Vorteil liegt im fachlichen Austausch der 18 Bauhütten aus fünf europäischen Ländern. Jede Bauhütte hat ihr eigenes Spezialwissen; wir sind Vorreiter in modernsten Scanverfahren. Tagungen und Besichtigungen vermitteln dieses Wissen, Freundschaften sind daraus entstanden.
TOP: Haben Sie schon Ihren persönlichen Lieblingsplatz im Ulmer Münster gefunden?
Dr. Vormann: Es gibt viel zu viele, um sich zu entscheiden. Allerdings fasziniert mich eine Zeit ganz besonders: Wenn morgens die Sonne aufgeht, noch bevor die ersten Besucher kommen, dringt ein herrliches Farbenspiel durch die Fenster herein. Eine ganz besondere Lichtatmosphäre, die sich bei Sonnenuntergang wiederholt. Da kommen Ehrfurchtsgefühle auf.
TOP: Im Rückblick auf die ersten Monate: Gab es Überraschungen, auf die Sie nicht vorbereitet waren?
Dr. Vormann: Den medialen Hype um meine Person als neue Münsterbaumeisterin habe ich nicht verstanden. Ich sehe drei Arten von Baumeistern: die Erbauer, die Fertigsteller, die Erhalter. Ich zähle zu letzteren, empfinde mich eher als Managerin. Diejenigen, die um jeden Zentimeter Stein mit ihren Händen kämpfen, das sind die wahren Helden!
TOP: Den Ulmern liegt ihr Münster eben sehr am Herzen…
Dr. Vormann: Jeder Ulmer, den ich kenne, hat eine individuelle Geschichte, die ihn mit dem Münster verbindet. Ob Hochzeiten, Taufen, schöne Erinnerungen… es hat mich überrascht, wie herzlich die Ulmer mit ihrer Bürgerkirche umgehen. Das zieht sich durch alle Generationen. Häufig erhalten wir historische Fotos aus Nachlässen angeboten. Sie zeigen zum Beispiel, wie die Mutter vor dem Münster posiert oder der Vater bei Bauarbeiten mitgewirkt hat. Man merkt: Die Ulmer geben sehr auf ihr Gebäude acht.
TOP: Wie schön, dass dieses Gebäude nun in den besten Händen liegt! Vielen Dank für das interessante Gespräch.
Fotos: Hermann Genth